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Digital Humanities, die digitalen Geisteswissenschaften, zählen zu den neueren Forschungsfeldern. Der Bereich ist derzeit von großer Dynamik geprägt. In Deutschland haben sich insbesondere in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten darunter eigenständige akademische Strukturen gebildet – unter anderem Verbände, Arbeitsgruppen, Kompetenzzentren, Studiengänge, Lehrstühle, Tagungsreihen, Publikationsforen. Zugleich wurden in den traditionellen Geisteswissenschaften wie auch im Bibliothekswesen zahlreiche Netzwerke und Arbeitsgruppen aufgebaut, die sich ebenfalls intensiv mit den Digital Humanities auseinandersetzen.

Als zentrale Gedächtnisinstitution verfolgt die Deutsche Nationalbibliothek diese Entwicklung aufmerksam: So in ihrer Rolle als

  • bibliothekarischer Infrastrukturpartner,
  • Dienstleister,
  • Arbeitgeber und
  • nicht zuletzt als Archiv von Beständen, an die unterschiedlichste Forschungsanfragen gerichtet werden.

Die nun initiierte mehrteilige Reihe von Workshops zu den Digital Humanities soll Entwicklungsstand, Anforderungen, Methoden und Perspektiven aufzeigen und analysieren.

Anlass

Hintergrund der Workshop-Reihe ist der aktuelle Boom der Digital Humanities in Deutschland. Neben der Gründung eines eigenen Verbandes (DHd) wird dieser vor allem deutlich durch die

  • Gründung zahlreicher neuer lokaler DH-Institutionen, -Verbünde und -Netzwerke sowie neuer Arbeitsgruppen in traditionellen Geisteswissenschaftsverbänden, Akademien, Gedächtnisinstitutionen,
  • Einrichtung von gut 60 Professuren in den vergangenen zehn Jahren,
  • Einführung von drei bis vier neuen Studiengängen in jedem Wintersemester und
  • Änderungen der Förderbedingungen in der Wissenschaftsförderung, die inzwischen Digital-Humanities-Strategien verlangen.

Auch die deutsche Politik setzt Schwerpunkte in den Digital Humanities, beispielsweise im Rahmen des Aufbaus nationaler Forschungsdateninfrastrukturen (NFDI). Das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat die Digital Humanities zudem zu einer eigenständigen akademischen Disziplin ausgerufen. Gleichzeitig eröffnet das neue UrhWissG (insb. § 60d UrhG zum Text und Data Mining) der Deutschen Nationalbibliothek seit März 2018 einen neuen Handlungsspielraum bei den digitalen Geisteswissenschaften.

Ziele

Die Deutsche Nationalbibliothek hat in ihrem Strategischen Kompass „Deutsche Nationalbibliothek 2025“ und den Strategischen Prioritäten 2017–2020 ihre Beschäftigung mit den Digital Humanities grundsätzlich festgelegt und verfolgt mit den Workshops insbesondere folgende Ziele:

  • Vertieftes Verstehen der unter dem Begriff Digital Humanities gebündelten heterogenen Entwicklungen
    von der Digitalisierung analoger Daten beziehungsweise Sammlung originär digitaler Daten über die Auswertung großer Datenmengen bis hin zur Langzeitarchivierung digitaler Daten, aber auch der sich derzeit vollziehenden institutionellen Entwicklungen, um deren Relevanz, Mehrwert und Herausforderungen für die Wahrnehmung des gesetzlichen Auftrags der Deutschen Nationalbibliothek zu eruieren
  • Aufbauen eines Netzwerks zu prägenden Akteuren der Digital Humanities
    zunächst insbesondere zum Know-how-Transfer (wissenschaftlicher Austausch, kooperative Forschungspilotprojekte am Bestand der Deutschen Nationalbibliothek, Abschlussarbeiten und studentische Praktika an der Deutschen Nationalbibliothek), mittelfristig auch zum Aufbau von Forschungskooperationen etwa für gemeinsame Drittmittelprojektanträge
  • Bekanntmachen der frei nutzbaren digitalen Bestände der Deutschen Nationalbibliothek (Metadaten, Inhaltsverzeichnisse), der neuen Möglichkeiten, mit Beständen der Deutschen Nationalbibliothek im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben (insb. § 60d UrhG) mittels Text und Data Mining wissenschaftlich zu arbeiten sowie der im Kontext der Digital Humanities unmittelbar relevanten Aktivitäten der Deutschen Nationalbibliothek (GND, nestor, Deutsche Digitale Bibliothek)
  • Vertieftes Verstehen der sich verändernden Erwartungen der Geisteswissenschaften an die Deutsche Nationalbibliothek
    im Kontext der Digital Humanities, als Partnerin wie als Dienstleisterin

Zu bislang vier Workshops lud die Deutsche Nationalbibliothek in den beiden Jahre 2019 und 2020 eine Auswahl maßgeblicher Akteure der Digital Humanities (DH) ein. Beim Workshop I in Leipzig waren geisteswissenschaftliche Verbände mit besonders stark ausgeprägter Nähe zu Sammlungsauftrag und Sammlungsschwerpunkten der Deutschen Nationalbibliothek vertreten. Beim Workshop II in Frankfurt am Main waren es Vertreter*innen von DH-Institutionen. Hier wurde besonders darauf geachtet, unterschiedliche Institutionstypen (hochschulzentrierte DH-Zentren, hochschulübergreifende DH-Zentren, dezentrale DH-Netzwerke) einzuladen, um im Vergleich etwas über die Verfasstheit und Nachhaltigkeit der institutionellen Strukturen der Digital Humanities in Deutschland zu lernen. Beim Workshop III in Leipzig ging es um die Chancen und Herausforderungen von und mit Datenarbeit im Internet. Beim Workshop IV in Frankfurt am Main schließlich lag der Fokus auf DH und Kulturerbeeinrichtungen, um die eigenen DH-Erfahrungen seit 2018 mit denen von verwandten Institutionen aus dem Bereich der Gedächtnisinstitutionen zu diskutieren und zu vergleichen.

Ergebnisse

Workshop I und II: Digital-Humanities-Zentren und DH im Kontext traditioneller Geisteswisschenschaften

In den ersten beiden Workshops stieß die Initiative auf großes Interesse, Lob und Neugierde. Die Teilnehmenden gaben in Eingangsstatements und den anschließenden Diskussionen einen vertieften, differenzierten Einblick in die derzeitige Rolle der Digital Humanities in den geisteswissenschaftlichen Fächern (Workshop in Leipzig) beziehungsweise in die Struktur, institutionelle Aufstellung und mittelfristige Planung der jeweiligen DH-Institutionen (Workshop in Frankfurt am Main). Die Deutsche Nationalbibliothek konnte ihre Position, ihr Potenzial, ihren Bedarf, aber auch die Grenzen ihres Engagements gegenüber wesentlichen Akteuren der Digital Humanities klar kommunizieren: von der Deutschen Nationalbibliothek als Arbeitgeberin bis zum NFDI-Prozess, vom Know-how-Bedarf bis zum Datenangebot.

Zudem wurden zentrale Erwartungen und Hoffnungen an die Deutsche Nationalbibliothek herangetragen – etwa zur ungelösten Frage der Langzeitarchivierung und -nutzbarkeit digitaler Forschungsdaten. Auch gemeinsame Interessen und Herausforderungen wurden identifiziert beispielweise bei Langzeitarchivierung, Normdaten, Suchmaschinen, Datenqualitätsstandards, Metadatenanreicherung und Urheberrecht. Erste Schritte zum Aufbau eines Netzwerks für den kontinuierlichen Austausch sind gemacht. Erste Anschlussaktivitäten sind bereits angestoßen, unter anderem zur Nutzung frei verfügbarer Daten sowie im Bereich Ausbildung bei Praktika und der kooperativen Betreuung von Abschlussarbeiten.

Workshop III: Bewertungskultur im Wandel? Zur uneinheitlichen Sammlung und Sichtbarkeit, Zugänglichkeit und Erschließung von Kulturerbe im Digitalen

Eine zentrale Herausforderung für Wissenschaft wie Gedächtnisinstitutionen stand im Fokus des dritten Workshops, die derzeit zu beobachtende Veränderung der Bewertungskultur hinsichtlich kultureller Informationen aller Art (unter anderem Werke, Dokumentationen, öffentliche Kommunikation, Forschungsdaten usw.) im digitalen Raum entlang von Faktoren wie Sammlungswürdigkeit, Erschließung, Vernetzung, Sichtbarkeit, Auffindbarkeit, Unvollständigkeit, Datenqualität, Vertrauenswürdigkeit, Bedingungen der Nachnutzbarkeit usw. Die Frage, wer Auswahlentscheidungen warum und wie trifft (Stichworte Legitimität und Verfahren), ist dabei von größter Bedeutung und wurde während des Workshops fortwährend aus unterschiedlichsten Richtungen ins Zentrum der Diskussion gerückt. Das gilt zum Beispiel

  • für die Vielfalt der Beweggründe sowie die Komplexität und die Interaktion von Einflussfaktoren bei Auswahlentscheidungen,
  • für die Heterogenität der maßgeblichen Auswahlinstanzen (von Expertengremium bis selbstregulierendem Crowd-Grass-Roots-Modell),
  • für das unklare, von Fall zu Fall divergierende Verhältnis von Gedächtnisinstitutionen und Wissenschaft in diesem Prozess (Rollenverteilung? Kompetenzverteilung?),
  • für die Vollständigkeitserwartung von Nutzern bei gedächtnisinstitutionellen Digitalangeboten,
  • für die Notwendigkeit, die Kriterien und Entscheidungsabläufe für Auswahlentscheidungen offenzulegen.

Anschlussaktivitäten zum Thema „Webarchivierung” mit der Universität Passau und „Bilderkennung und -analyse” mit der Universität Frankfurt am Main sind vereinbart. Weiter laufen Planungen mit den Co-Organisatoren Prof. Dr. Feige und Prof. Dr. Becker zur Vertiefung und Ausdifferenzierung im Rahmen einer Anschlussveranstaltung zu eben jenem „Auswahlprozess bei selektiven Sammlungs-, Erschließungs-, Präsentations- und Nachnutzbarkeitsentscheidungen", der im Workshop ins Zentrum der Diskussionen rückte.
Wichtiges Ergebnis des dritten Workshops war, dass das Thema „Bewertungskultur im Wandel?” in vielen beteiligten geisteswissenschaftlichen Fachdisziplinen noch gar nicht als wesentliches Thema erkannt ist. Die Deutsche Nationalbibliothek geht hier also nicht bloß einer wichtigen Entwicklung hinterher, sondern setzt sie aktiv im Diskurs.

Workshop IV: „Zwischenstand und Perspektiven der Digital Humanities: Gedächtnisinstitutionen“

Der Workshop IV schließt an die Inhalte der vorausgegangenen Workshops an. Im Mittelpunkt standen der Austausch und der Dialog zwischen Gedächtnisinstitutionen und Digital-Humanities-Zentren.

Digital Humanities brauchen Daten. Schon hieraus ergibt sich, warum zentrale Gedächtnisinstitutionen diese Entwicklung aufmerksam verfolgen. Im Bereich des deutschen kulturellen Erbes der vergangenen gut 100 Jahre ist die Deutsche Nationalbibliothek dabei im Rahmen ihres gesetzlichen Auftrags als zentrale Archivbibliothek Deutschlands tätig, für Text, Bild und Ton, analog wie digital. Ziel des Workshops war, den Entwicklungsstand und die eigene Position der DNB in der DH-Entwicklung im direkten Vergleich mit anderen Institutionen aus dem Kulturbereich zu erkennen. Besonderes Augenmerk wurde auf die Medientypen Bild/Foto, Bewegtbild/Film, physische Objekt u. Ä. gelegt, die nicht zum Sammelschwerpunkt der DNB gehören und die DNB daher in diesem Bereich bislang wenig DH-Erfahrung hat.

Neben der Grundsatzfrage „Digital Humanities vs. Transdisziplinäres Zusammenarbeiten – Was funktioniert besser?“ standen im Mittelpunkt der Diskussion vor allem die Fragen:

  • Welche Ressourcen und Kompetenzen bedarf es in den Einrichtungen, Forschung und Wissenschaft?
  • Welche Entwicklungen und Erkenntnisse der Digital Humanities können für die Wahrnehmung des eigenen gesetzlichen Auftrags der Deutschen Nationalbibliothek genutzt werden?
  • Welche Möglichkeiten gibt es für institutionsübergreifende DH-Arbeit?
  • Wie können die heterogenen Erwartungen der Nutzer*innen erfüllen werden?
  • Welche Daten- und urheberrechtlichen Bedingungen müssen erfüllt werden?
  • Wie verändert Digitalisierung den Sammlungsbereich?

Eine ausführliche Besprechung der Resultate aller vier Workshops wurde veröffentlicht in der ZfBB - Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie 67/3-4 (2020), S. 213-230

Übersicht der geladenen Institutionen / Gäste

Workshop I ­– „Digital Humanities im Kontext traditioneller Geisteswissenschaften“

  • Deutscher Anglistenverband
  • Deutscher Germanistenverband (AG Germanistik im digitalen Zeitalter)
  • Deutscher Romanistenverband (AG Digitale Romanistik)
  • Deutscher Slavistenverband
  • Gesellschaft für Informatik (FG Informatik und Digital Humanities)
  • Gesellschaft für Medienwissenschaft (AG Daten und Netzwerke)
  • Gesellschaft für Musikforschung (FG Digitale Musikwissenschaft)
  • Kulturwissenschaftliche Gesellschaft
  • Mediävistenverband (AG Digital Mediävistik)
  • Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (AG Digitale Geschichtswissenschaft)
  • Verband deutscher Kunsthistoriker (AK Digitale Kunstgeschichte)

Workshop II – „Digital-Humanities-Zentren“

  • CCeH Köln
  • GCDH Göttingen
  • Trier Center for Digital Humanities
  • Zentralverband der Digital Humanities, DHd
  • CEDIFOR Frankfurt/Darmstadt
  • Mainzed Mainz
  • Institut für Deutsche Sprache Mannheim (Abt. Digitale Sprachwissenschaft)
  • Netzwerk für digitale Geisteswissenschaften Potsdam

Workshop III – Bewertungskultur im Wandel? Zur uneinheitlichen Sammlung und Sichtbarkeit, Zugänglichkeit und Erschließung von Kulturerbe im Digitalen

  • Donig, Simon, Dr. | Universität Passau (DH)
  • Eide, Øyvind, Prof. Dr. | Universität Köln (DH — Historisch-Kulturwissenschaftliche Informationsverarbeitung)
  • Euler, Ellen, Prof. Dr. | FH Potsdam (Rechtswissenschaft)
  • Giesa, Felix, Dr. | Universität Frankfurt (Jugendbuchforschung)
  • Heyden, Linda | Wikimedia
  • Klaus, Barbara, M.A. | Universität Wien (Publizistik)
  • Mischke, Dennis, Dr. | Universität Potsdam (Amerikanistik/DH)
  • Schilling, Samuel, M.A. | Brandenburgische Technische Universität Cottbus-Senftenberg (Medienwissenschaft)
  • Schmerbauch, Maik, Dr.| Archivar im Bundesdienst, Lehrbeauftragter für Geschichtswissenschaften (Archivwissenschaft)
  • Schmid, Tabea, M.A. | Hochschule für Gestaltung Schwäbisch Gmünd (Strategische Gestaltung/Informationsdesign)
  • Schmidt, Andreas, Dr. | Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns
  • Stettler, Sabine, M.A. | Universität Zürich (Geschichtswissenschaft)
  • Wagner, Sarah, M.A. | Germanisches Nationalmuseum Nürnberg

Externe Kooperationspartner (Konzeption/Durchführung):

  • Becker, Thomas, Prof. Dr. | HBK Hochschule für Bildende Künste Braunschweig (Philosophie, Kulturwissenschaft und Soziologie)
  • Feige, Daniel Martin, Prof. Dr. | Staatliche Akademie der Bildenden Künste Stuttgart (Philosophie)
  • Packard, Stephan, Prof. Dr. | Universität zu Köln (Medienwissenschaft)

Workshop IV: „Zwischenstand und Perspektiven der Digital Humanities: Gedächtnisinstitutionen“

  • Scheuer, Franziska; Klaus Bulle | Bildarchiv Foto Marburg
  • Heftberger, Adelheid, Dr. | Filmarchiv im Bundesarchiv Berlin
  • Neuburger, Andreas, Dr. | Landesarchiv Baden-Württemberg
  • Louden, Carola | Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv Frankfurt am Main
  • Oberste-Hetbleck, Nadine, Jun.-Prof. Dr. | ZADIK – Zentralarchiv für deutsche und internationale Kunstmarktforschung
  • Fichtner, Markus | Germanisches Nationalmuseum Nürnberg
  • Niewerth, Dennis, Dr. | Deutsches Schifffahrtsmuseum Bremerhaven
  • Schmälzle, Christoph, Dr.; Trenkmann, Ulrike | Forschungsverbund Marbach Weimar Wolfenbüttel
  • Lorenz, Jörg | Universitäts- und Landesbibliothek Münster
  • Rißler-Pipka, Nanette, PD Dr. | Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen

Kontakt und weitere Informationen

Ansprechpartner

PD Dr. Frédéric Döhl, Ass. Iur.

f.doehl@dnb.de

Tel. +49 341 2271-232

Weitere Informationen

Letzte Änderung: 17.12.2020

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