Navigation und Service

Dora Schindel (1915–2018) – In memoriam

Die Zeit bis zur Emigration

Dora Schindel wurde am 16. November 1915 in München geboren. Sie war das dritte Kind des Kaufmanns Moritz Schindel und seiner Frau Amalie, geb. Bier, und wuchs im Ambiente eines gutbürgerlichen jüdischen Hauses auf. In München war sie Schülerin des Städtischen Mädchenlyzeums und bestand im März 1935 das Abitur am Mädchenreformrealgymnasium. Im Anschluss besuchte sie die wirtschaftliche Frauenschule des jüdischen Frauenbundes. Als Jüdin war ihr der Zugang zur Universität verwehrt. Schon im April 1933 war das „Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen“ verabschiedet worden. Zu einer ständig wachsenden Zahl von einschränkenden Verordnungen trat hinzu, dass die Nationalsozialisten einer akademischen Ausbildung von Frauen generell ablehnend gegenüberstanden. So absolvierte Dora Schindel zunächst von Dezember 1935 bis August 1937 eine Ausbildung als chemisch-technische Assistentin am Chemischen Laboratorium Dr. Hoppe in München. Parallel war die sport- und tanzbegabte junge Frau bis 1936 Schülerin der Wigman Schule. Mit Mary Wigman sollte sie eine Jahrzehnte währende Brieffreundschaft verbinden.
1937 verließ Dora Schindel Deutschland, um – finanziell unterstützt von ihrer Familie – an der Universität Zürich Kunstgeschichte und Literatur zu studieren. In diese Zeit fällt eine Begegnung, die für ihr Leben bestimmend wurde: Schon während einer Reise nach Salzburg 1935 hatte Dora Schindel den Wissenschaftler und Politiker Hermann M. Görgen kennengelernt. Der Assistent von Friedrich Wilhelm Foerster war 1934 in das Saargebiet geflohen und gehörte dort zum katholisch-konservativen Widerstandskreis um Johannes Hoffmann und die „Neue Saarpost“. Nach der verlorenen Saar-Abstimmung 1935 floh Görgen weiter nach Österreich, wo er in Salzburg als Assistent am Forschungsinstitut für Deutsche Geistesgeschichte tätig war. Im März 1938 nach der Annexion Österreichs floh Görgen über die Tschechoslowakei in die Schweiz, wo ihn Dora Schindel in Zürich als Assistentin bei seiner politischen Widerstandsarbeit unterstützte.
In Zürich pflegte Dora Schindel Kontakt zur Familie Mann, besonders zu Elisabeth Mann, die sie bereits aus München kannte. Gemeinsam mit Hermann M. Görgen gehörte sie zur Gruppe um den Verleger Emil Oprecht, dessen Züricher Adresse zu einer Anlaufstelle für eine Vielzahl von Emigranten wurde. Nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs gingen Dora Schindel und Hermann M. Görgen nach Genf. Offiziell war Dora Schindel als Studentin eingeschrieben. Aber zu dieser Zeit arbeiteten sie und Hermann M. Görgen bereits eng mit dem Comité International pour le Placement des Intellectuels Réfugiés zusammen, das emigrierte Intellektuelle übergangsweise finanziell unterstützte, Stellen vermittelte und Hilfestellung bei der Weiteremigration leistete.

Die Emigration nach Brasilien

Die Situation der deutschsprachigen Emigranten in der Schweiz verschlechterte sich zunehmend. Aufgrund eines Abkommens mit Deutschland hatte die Schweiz für jüdische Deutsche am 4. Oktober 1938 die Visumspflicht eingeführt. Ab Januar 1939 wurde diese Visumspflicht auf alle Emigranten ausgedehnt. Flüchtlinge ohne Visum wurden an der Grenze zurückgewiesen. Ein Bundesratsbeschluss vom 17. Oktober 1939 ermöglichte die sogenannte „Ausschaffung“ von illegal eingereisten Personen. Ausgenommen davon waren nur die als politische Flüchtlinge anerkannten Personen. Weiterhin regelte der Beschluss den rechtlichen Status der Emigranten. Zwischen „Flüchtlingen“ und „Emigranten“ wurde nun unterschieden. Für Emigranten, zu denen auch Dora Schindel zählte, stellte sich die Schweiz nur als Transitland zur Verfügung. Emigranten waren verpflichtet, sich aktiv um die Weiteremigration zu bemühen. Jede politische Tätigkeit war verboten, jede Erwerbstätigkeit bedurfte der ausdrücklichen Genehmigung der Eidgenössischen Fremdenpolizei. 1940 wurde damit begonnen, Lager für Flüchtlinge einzurichten. Die Flüchtlinge sollten kostengünstig versorgt, zu Arbeitseinsätzen herangezogen und einer Kontrolle unterstellt werden
Vor dem Hintergrund der sich verschlechternden Situation der Emigranten in der Schweiz entwickelte sich der Plan, einer Gruppe von Gefährdeten unter der Leitung von Hermann M. Görgen und Dora Schindel die Ausreise nach Übersee zu ermöglichen. Nach Verhandlungen mit möglichen Aufnahmeländern schien die Emigration nach Brasilien Erfolg zu versprechen, obwohl dort das diktatorische Regime von Getúlio Vargas eine restriktive Einwanderungspolitik betrieb und die Immigration von Juden nicht erwünscht war. Brasilien war also nicht das Zufluchtsland erster Wahl, sondern die realistischste Chance, aus Europa herauszukommen. Unterstützt von dem Philosophen Friedrich Wilhelm Foerster, dem Comité International pour le Placement des Intellectuels Réfugiés, dem Schweizerischen Caritasverband, der Landeskirchlichen Flüchtlingshilfe und anderen Organisationen gelang es Dora Schindel und Hermann M. Görgen, 48 Personen, die sich als „Gruppe Görgen“ zusammengefunden hatten, die Emigration nach Brasilien zu ermöglichen. Dabei galt es, vielfältige Schwierigkeiten zu überwinden. Einige der zur „Gruppe Görgen“ gehörenden Personen mussten aus schweizerischen Internierungslagern erst entlassen werden. Die Schweizerische Fremdenpolizei zeigte sich kooperativ, verstand sich die Schweiz doch als Transitland, das auf die Weiterwanderung der Flüchtlinge drängte. Die notwendige Beschaffung von brasilianischen Einreisevisen gelang mit Hilfe des brasilianischen Generalkonsuls in Genf und Repräsentanten beim Völkerbund Milton César de Weguelin Vieira. Voraussetzung für die Gewährung der brasilianischen Einreisevisen war, dass es sich bei den Emigranten um „arische“ Einwanderer handelte. Für die Mitglieder der Gruppe, die nach den Nürnberger Gesetzen „Nicht-Arier“ waren, mussten tschechoslowakische Pässe beschafft werden, die ihre Inhaber nicht durch ein eingestempeltes „J“ verrieten. Mit Hilfe des Saarländers Franz Weber, Hilfskaplan in Zürich und selbst Mitglied der Gruppe Görgen, sowie anderen Geistlichen gelang es zudem, Dokumente zu erstellen, die die Taufe und sogenannte „arische Abstammung“ der Gruppenmitglieder bescheinigten. So auch für Dora Schindel. Die restriktiven brasilianischen Einreisebestimmungen sahen neben dem willkommenen Zuzug von finanzkräftigen Einwanderern Permanentvisen insbesondere für Landwirte sowie für Handwerker und Techniker vor. Die „Gruppe Görgen“, zu der neben Technikern und Ingenieuren auch die Romanistin Susanne Bach, der Schriftsteller Ulrich Becher, der Biologe Alfred Goldschmidt, der Publizist Walter Kreiser und der Musiker Georg Wassermann gehörten, reiste als Technikerteam ein, das eine Industriegründung in Brasilien beabsichtigte. Alle Mitglieder der Gruppe mussten als geeignete Beschäftigte für dieses Unternehmen ausgegeben werden. Nicht nur die Beschaffung der Einreisevisen, auch die der Transitvisen für Frankreich, Spanien und Portugal stellte eine beängstigende Hürde dar. Hier halfen der Apostolische Nuntius Filippo Bernardini in Bern und der Vatikan, diese Durchreisevisen für die „Gruppe Görgen“ zu erhalten.

Brasilien

Am 26. April 1941 lief das Schiff „Cabo de Hornos“ in Richtung Rio de Janeiro aus dem Hafen von Lissabon aus.
Die Überfahrt dauerte 14 Tage. Nach der Ankunft in Rio de Janeiro wurde in Juiz de Fora die Fabrik „Indústrias Técnicas Ltd.“ (INTEC) gegründet, deren kaufmännische Betreuung Dora Schindel übernahm. Zu ihren Aufgaben gehörten u.a. die Gehaltsabrechnungen, Übersetzungen und Korrespondenz sowie weitere kaufmännische Tätigkeiten. „Natürlich musste ich die ,kaufmännische' Arbeit erst lernen. Es blieb mir ja nichts anderes übrig. Am Schlimmsten war es, wenn ich den Bankdirektor um Zahlungsaufschub bitten musste", erinnert sich Dora Schindel.
Die Fabrik unterhielt eine mechanische Werkstatt, eine Schreinerei und eine Gießerei. Nachdem Brasilien 1942 auf Seiten der Alliierten in den Krieg eingetreten war, erhielt die Fabrik auch Regierungsaufträge. Die wenigsten Mitglieder der Gruppe Görgen arbeiteten tatsächlich in der Fabrik mit, obwohl sie sich bei der Ausreise dazu verpflichtet hatten. Die Mehrzahl der Mitarbeiter der Fabrik waren Brasilianer, wie es auch das brasilianische Gesetz forderte. Ein finanzieller Erfolg wurde die INTEC nicht. Das Unternehmen bestand bis 1954 und wurde dann von einer brasilianischen Firma übernommen. Parallel wurde bald ein kleiner Verlag gegründet, die Editora Arte Cristã, der versuchte, in Zusammenarbeit mit dem Maler und Grafiker Axl von Leskoschek religiöse Drucksachen zu veröffentlichen.
Brasilien stellte für die deutschsprachigen Emigranten aus unterschiedlichen Gründen eine Herausforderung dar. Im Zuge der sogenannten Nationalisierungsmaßnahmen war seit 1942 der Gebrauch der deutschen Sprache verboten. Dennoch, so erinnert sich Dora Schindel, haben sie und Hermann M. Görgen nie aufgehört, Deutsch zu sprechen. Aber auch das Erlernen der portugiesischen Sprache fiel ihr nicht schwer: "Die Sprache war eigentlich kein Problem. Da ich Französisch und Latein gelernt hatte und sehr viel gleich an ins Portugiesische übersetzter Literatur zu lesen begann." Betroffen waren sie auch von Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmung aufgrund des allgemeinen Verdachts gegen Deutsche, Spione des nationalsozialistischen Deutschland zu sein.
Trotz vielfältiger Aktivitäten ermöglichte das Leben in Juiz de Fora keine aktive Teilhabe am aktuellen politischen Geschehen, dennoch gelang die Integration in die brasilianische Gesellschaft gut. Die Nationalisierungskampagne hatte durch das Verbot der deutschen Sprache und das erzwungene Erlernen der Landessprache eine Voraussetzung für die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben geschaffen.

Die Rückkehr nach Deutschland

Görgen verfolgte die Entwicklung Deutschlands nach Kriegsende mit großem Interesse. Er schätzte die Lage lange pessimistisch ein: „Leider bin ich gezwungen, sehr schwarz in die Zukunft zu sehen. Der ganze demokratische Schwindel, den man jetzt in Deutschland seitens der Alliierten aufführt, wird zu keinem Ergebnis führen und die Mentalität des deutschen Volkes wird die gleiche bleiben“, schreibt er 1946. Erst acht Jahre später kehrte Hermann M. Görgen nach Deutschland zurück. Er übernahm die Leitung des Saarländischen Rundfunks. Dora Schindel wickelte in Juiz de Fora die Geschäfte ab und ging 1955 zunächst in die Schweiz. 1957 folgte sie Görgen nach Bonn, um ihn in seiner Funktion als Abgeordneter der CSU Saar im Deutschen Bundestag als Assistentin zu unterstützen. Ihre Gefühle nach der Rückkehr nach Deutschland beschrieb Dora Schindel 2012 in einem Interview: „Wenn ich nicht vom ersten Tag an Kontakt zu Brasilianern gehabt hätte, wäre ich wahrscheinlich sofort wieder umgekehrt. Es war ein sehr erschütterndes Erlebnis. Und zwar – 1955 müssen Sie denken – erstens einmal diese Nähe. Kein Unterschied von der einen Stadt zur anderen. Diese weiten Flächen, die da in Brasilien zwischen den Städten lagen – ich habe richtig Atemnot bekommen. Und dann, wenn ich mit dem Bus gefahren bin, dann hat man immer diese verbiesterten Gesichter gesehen, damals hatten die Leute alle solche verbiesterten Gesichter, keinen freundlichen Gesichtsausdruck. Das war fürchterlich. Und bei mir kam dann natürlich noch dazu, wenn mir jemand gegenüber saß mit einem verbitterten Gesicht, fragte ich mich, ob das nicht auch ein Nazi war – diese Suggestion, die kam natürlich dann auch irgendwie.“
Dora Schindel war durch die Jahre der Emigration zu einer „Deutsch-Brasilianerin“ geworden, wie sie sich selbst beschrieb. 1960 gründeten Hermann M. Görgen und Dora Schindel die Deutsch-Brasilianische Gesellschaft, eine Vereinigung zur Verbesserung der deutsch-brasilianischen Beziehungen. Dort und im Lateinamerika-Zentrum übernahm sie Verwaltungsaufgaben. Sie war Mitglied im Kuratorium und ist bis heute Ehrenmitglied des Präsidiums und das „Gedächtnis“ der Deutsch-Brasilianischen Gesellschaft. Hermann M. Görgen war nach seinem Ausscheiden aus dem Deutschen Bundestag Sonderbeauftragter für die Beziehungen zu Lateinamerika im Auftrag des Bundespresseamtes. Auf seinen Reisen nach Brasilien wurde er von Dora Schindel begleitet, gemeinsam setzten sie sich für den interkulturellen Dialog ein, die Völkerverständigung wurde ihr zur Lebensaufgabe. Dora Schindel, die 1955 die brasilianische Staatsbürgerschaft erhalten hatte, wurde auf eigenen Wunsch 1986 deutsche Staatsbürgerin. In ihrer Begründung zur Beantragung der deutschen Staatsbürgerschaft heißt es: „Die Verbindung zum deutschen Sprach- und Kulturkreis und zu meiner Geburtsheimat hat mich veranlasst, die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen, da ich bei aller Zuneigung zu dem Gastland Brasilien, mich meiner Heimat am stärksten verbunden fühle.“
Danach gefragt, was Brasilien, was Deutschland für sie bedeuten, antwortete Dora Schindel: „Ich habe immer gesagt, ich bin halbe Bayerin und halbe Brasilianerin. Und irgendwie stimmt das nach wie vor. Ich kann wirklich diese beiden Mentalitäten in mir vereinigen. Ich liebe sie beide. Ich möchte die eine nicht missen und möchte die andere nicht missen. Ich fühle mich in dieser Gemeinschaft eigentlich sehr, sehr wohl. Und ich hoffe, etwas von dieser Menschlichkeit, die beide in sich bergen, an die jeweils andere zu übermitteln.“

(Dr. Sylvia Asmus)

nach oben