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Gabrielle Alioth, PEN Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland

Begrüßung – Vorstellung des Zentrums und des OVID-Preises

Wir trugen Rollkragenpullover und Schlaghosen, in einer Schweizer Kleinstadt, die sich nicht allzu klein, nicht allzu schweizerisch anfühlte. Ich war 22 Jahre alt und verliebt, in einen Geschichtsstudenten, der die Umsicht hatte, sofort Tickets zu kaufen. Wir wussten, dies war kein gewöhnliches Konzert. Es würde unseren Vermutungen einen Namen geben, unseren Fragen ein Gesicht, unserer Kritik eine Stimme. Wir ahnten, dass wir andere sein würden nach dem Konzert, das Wolf Biermann 1977 in Basel gab.

Sehr geehrte Damen und Herren,
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
Liebe Frau Biermann
Lieber Wolf Biermann

Es ist mir eine Ehre und eine große Freude, Sie hier in der Deutschen Nationalbibliothek begrüßen zu dürfen, und ich bedanke mich im Namen des Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland, für das ich heute Abend hier sprechen darf, und in meinem eigenen bei unseren Gastgeberinnen, vorab bei Frau Dr. Asmus, für die Möglichkeit, den OVID-Preis erneut in diesem – aus historischer wie auch gegenwärtiger Sicht – idealen Rahmen vergeben zu können.

Sie alle werden sich – so wie ich – an ein erstes Konzert, ein erstes Lied, ein erstes Gedicht von Wolf Biermann erinnern. Denn Wolf Biermann ist nicht nur Teil der deutsch-deutschen Geschichte, er ist auch Teil der europäischen Geschichte und mehr noch: er ist Teil unserer eigenen ganz persönlichen Geschichten. Er ist einer der Menschen, die es verstanden und verstehen, uns mit einer Wendung, einem Satz, einer Strophe diese Welt verständlicher zu machen, unser Gewissen zu wecken und uns herauszufordern. Und deshalb ist es richtig und wichtig, ihn mit dem OVID-Preis auszuzeichnen.

So selbstverständlich Ihnen der Name von Wolf Biermann, dem diesjährigen Empfänger des OVID-Preises, über die Lippen kommen wird, so schwer tun Sie sich vielleicht mit dem Namen des Preisverleihers, dem PEN-Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland.
Wir sind in der Tat ein sehr kleiner Verein mit einem sehr langen Namen, aber auch einer sehr langen Geschichte. Als Deutscher PEN Club im Exil wurden wir 1934 in London gegründet, von Schriftstellern wie Lion Feuchtwanger, Ernst Toller, Rudolf Olden, Max Herrmann-Neiße, für Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die ihre Heimat verlassen mussten. Die Mitgliederliste dieses ersten Exil-PEN überhaupt zählt inzwischen rund 400 Namen. Darunter sind berühmte Autorinnen und Autoren, die längst ihren Platz im Kanon der deutschen Literatur gefunden haben, aber auch eine große Anzahl von Autorinnen und Autoren, die heute nur noch wenigen bekannt oder fast ganz – und oft zu Unrecht – vergessen sind. Dass auch diese Autorinnen und Autoren und ihre Werke im Deutschen Exilarchiv hier in Frankfurt einen Platz gefunden haben, ist für unser Zentrum von großer Bedeutung. Wir sind hier sozusagen zu Hause und dass wir heute Abend hier den nunmehr dritten OVID-Preis vergeben dürfen, ist nicht nur stimmig, sondern einfach auch sehr schön.

Der Exil-PEN, wie wir immer noch genannt werden, hat in den 87 Jahren seines Bestehens Krisen überstanden und Häutungen durchlebt. Heute sind unsere Mitglieder über die ganze Welt zerstreut, jeder mit einer eigene Flucht-, Vertreibungs- oder Auswanderungsgeschichte, im realen oder übertragenen Sinn, Geschichten, die unser Leben und Schreiben prägen. Unsere Emigration ist in den meisten Fällen eine freiwillige, selbstgewählte. Dennoch verbindet uns mit jenen, die unter Zwang in die Fremde gehen, die Notwendigkeit, sich in dieser einzurichten, an einem unvertrauten Ort aus dem, was wir mitgebracht haben, und dem, was wir neu entdecken und erfahren, ein Leben zu schaffen.
Dies schlägt sich in unserem Schreiben nieder, und das Überqueren von Grenzen – geografischen, sprachlichen, kulturellen, sozialen – bringt nicht nur einen Verlust an Gewissheiten, sondern auch einen Gewinn an Wachsamkeit im Umgang mit Werten und Wörtern.
Das verbindet uns auch mit dem Autor, der diesem Preis seinen Namen gab: Publius Ovidius Naso, Ovid, der vor zweitausend Jahre in seiner Verbannung am Schwarzen Meer gestorben ist.

Mit seinen Metamorphosen, den „Büchern der Verwandlungen“, die er im Exil zu Ende schrieb, schuf Ovid die wohl populärste Sammlung mythologischer Geschichten, die Literatur und Kunst der westlichen Welt formten und bis heute prägen, die Geschichten von Pyramus und Thisbe, Daedalus und Ikarus, Orpheus, Eurydike, Pygmalion, Leda, Medea und natürlich Europa.
Mit seinen Tristia, seinen Bittbriefen nach Hause, steht Ovid aber auch am Anfang der Exilliteratur, und – wären solche Anachronismen erlaubt – hätte er das erste Mitglied unseres Exil-PENs sein müssen.
Deshalb haben wir zweitausend Jahre nach seinem Tod den OVID-Preis lanciert, der nun zum dritten Mal vergeben wird, nach Guy Stern und Herta Müller, heute an Wolf Biermann.

Rede gehalten am 5. Oktober 2021 im Deutschen Exilarchiv 1933–1945 der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main

Letzte Änderung: 15.11.2021

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