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Dr. R. Venske, Präsidentin des PEN Zentrums Deutschland

Grußwort zur Verleihung des Ovid-Preises an Wolf Biermann

Lieber verehrter Wolf Biermann,
liebe Pamela,
verehrter Guy Stern,
sehr geehrte Frau Asmus,
liebe Gabrielle Alioth,
sehr geehrte Damen und Herren:

„Wir Schriftsteller sind gewissermaßen die Treuhänder der menschlichen Natur, und wenn wir engherzig und voller Vorurteile sind, schaden wir der gesamten Menschheit. Aber je besser wir einander kennen (…), desto größer sind die Aussichten der Menschheit auf Glück in einer noch nicht allzu glücklichen Welt.“

Auf den Tag, präziser gesagt, auf den Abend genau vor hundert Jahren, am 5. Oktober 1921, sprach John Galsworthy diese Worte anlässlich der Gründung des internationalen – und zwar von Anfang an international gedachten – PEN-Clubs. 40 Autorinnen und Autoren hatten sich damals auf Einladung der Schriftstellerin Catherine Amy Dawson Scott im Londoner Restaurant Florence, in dem schon Oscar Wilde gern zu Gast gewesen war, zu einem gepflegten Dinner versammelt. Dass aus dieser Initiative eine so langlebige und erfolgreiche Graswurzelorganisation im Einsatz für die Freiheit des Wortes, für Frieden und Völkerverständigung werden würde, mit inzwischen über 140 Zentren in über 100 Ländern, hätte sich an jenem Abend wohl niemand träumen lassen, auch wenn John Galsworthy seine Worte sub specie aeternitatis setzte. Die von ihm ausgegebene Parole „No politics in the PEN“ hielt allerdings nicht lange vor; dass man mit diesem Motto nicht durchs 20. Jahrhundert käme, sollte sich schon bald erweisen.

Dass wir uns nun heute, genau 100 Jahre nach der Gründung unserer noblen Organisation, hier in Frankfurt treffen, um Wolf Biermann zu ehren und gemeinsam zu feiern, und dass ich dabei ein kleines Grußwort sprechen darf, erfüllt mich dreifach mit Freude.

Freude, weil wir heute Abend gemeinsam dieser hundert Jahre PEN gedenken und sie bedenken können.

Freude, weil ich als Vertreterin des PEN Zentrums Deutschland zu Gast bin bei Ihnen und Euch, unserem befreundeten PEN Zentrum deutschsprachiger Autorinnen und Autoren im Ausland, dem vormaligen Exil-PEN mit seiner so besonders bewegenden Geschichte. Eine bewegte Geschichte haben wir wohl auch, und auf das Erbe der Emigranten und Exilanten, das Erbe der Verfolgten von Faschismus, Völkermord und Diktatur, auf das Vermächtnis des Widerstands beziehen sich unsere beiden Zentren. Inwieweit wir dem gerecht werden, muss sich immer wieder neu erweisen – ich bin dankbar, liebe Gabrielle, für die gute gemeinsame Zusammenarbeit in den vergangenen Jahren, die sich hoffentlich in der Zukunft fortsetzen wird.

Und zum dritten ist es mir natürlich eine besondere Freude und auch Ehre, lieber Wolf Biermann, Dir heute Abend meine ganz persönliche Dankbarkeit ausdrücken zu können. Seit dem Köln-Konzert 1976 haben mich deine Lieder und kraftvollen Texte, auch die Übersetzungsprojekte natürlich begleitet, herausgefordert, angespornt und oftmals auch ermutigt. Und obwohl ich als Kind der Babyboomerjahre in der alten Bundesrepublik nie eine Kommunistin war, hat doch das Große Gebet der alten Kommunistin Oma Meume in Hamburg immer zu meinen Lieblingsliedern gezählt und mich in trüben Stunden getröstet. Vielen Dank, lieber Wolf Biermann, für dieses Lied ebenso wie für die Schulung in Dialektik und Widersprüchen und für vieles andere mehr.

Vorgestern Abend habe ich in Warschau der Verleihung des Nike-Preises – eines der wichtigsten polnischen Literaturpreise – beigewohnt. Wann immer die Kameras für die Liveübertragung ins Publikum schwenkten, hielten wir diese Zettel hoch:

GDZIE SA DZIECI?

Wo sind die Kinder? Almand 2 ½ Jahre, Alas, 4 ½ Jahre, Arin, 6 Jahre, Aryas, 8 Jahre: Es sind die Namen von jesidischen Kindern aus Syrien und dem Irak, deren Schicksal und Verbleib im belarusisch-polnischen Grenzgebiet ungewiss ist und worüber, da sich aufgrund des Ausnahmezustands dort keine Journalisten aufhalten dürfen, nicht berichtet werden kann. Dass du die Auszeichnung, die du heute Abend erhältst, der weißrussischen Bürgerrechtlerin Maria Kalesnikava widmest, ist ein wichtiges Zeichen. Und vielleicht, lieber Wolf Biermann, das würde ich mir jedenfalls wünschen, widmest du diesen Kindern ein Lied? - Danke.

Rede gehalten am 5. Oktober 2021 im Deutschen Exilarchiv 1933–1945 der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main

Letzte Änderung: 15.11.2021

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