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Die Konstante ist der Wandel: Ein Rück- und Ausblick auf die Geschichte des Deutschen Musikarchivs der Deutschen Nationalbibliothek

Am 1. Januar 2020 feierte das Deutsche Musikarchiv (DMA) seinen 50. Gründungstag: Eine schöne Gelegenheit, einen Blick auf seine Historie zu werfen. In den vergangenen fünf Jahrzehnten hat sich nicht nur die Musikindustrie kräftig gewandelt, sondern auch Hörgewohnheiten und die Anforderungen der Nutzer*innen an das Archiv und seine Zugangsmöglichkeiten. Und all diese Veränderungen seit 1970 spiegeln sich mal stärker, mal schwächer in den Aufgaben und Herausforderungen des Archivs wider – wenn auch manchmal zeitversetzt.

Musikressourcen in Millionenhöhe

Der Auftrag der Deutschen Nationalbibliothek lautet in seiner aktuellen Form, sämtliche seit 1913 in Deutschland veröffentlichten Medien in Schrift, Bild und Ton zu sammeln, zu erschließen, zu bewahren und zugänglich zu machen. Das DMA übernimmt – verkürzt gesagt – den musikalischen Teil dieses Auftrags und sammelt in Deutschland veröffentlichte Notenausgaben (Musikalien) und Musiktonträger. Durch das Pflichtablieferungsrecht gelangen so von allen genannten Medien zwei Exemplare in das DMA: eines für den Leipziger und das andere für den Standort in Frankfurt am Main.

Im Durchschnitt gelangen Woche für Woche 1.500 Tonträger und mehr als 200 Notenausgaben in das DMA – und so beherbergt es nach 50 Jahren mit einer Million Musikalien und 2,2 Millionen gesammelter Tonträger eine der größten musikalischen Sammlungen weltweit. Den Großteil dieser Sammlung machen CDs und Vinylschallplatten aus, es finden sich aber auch historische Klavierrollen in vier-, Audiokassetten in fünf-, und Schellackplatten in sechsstelliger Anzahl in den Magazinen des Archivs. Dabei ist der wichtigste Aspekt dieser einzigartigen Sammlung ihre Objektivität. Im Gegensatz zu kommerziellen Streamingdiensten entscheidet das DMA nicht nach Popularität oder Klickzahlen, welche Medien es aufnimmt, stattdessen herrscht das Prinzip Vollständigkeit. Und wer vermag vorherzusagen, welche heute uninteressante oder vermeintlich schlechte Musik in zehn, zwanzig, fünfzig Jahren in den Blick des öffentlichen Interesses gerät?

Es begann in Berlin

Gartenansicht Herrenhaus Correns (sogenannte Siemens-Villa) Foto: DNB

Das DMA musste ab seinem Gründungstag am 1. Januar 1970 nicht bei Null anfangen. Es konnte vielmehr die Musiksammlung seiner Vorgängerinstitution, der Deutschen Musik-Phonothek, übernehmen, die von 1961 bis 1969 ausgewählte Musikalien und Tonaufnahmen zusammengetragen hatte, um sie Forschung und Lehre zur Verfügung zu stellen. Erst mit der Gründung des DMA 1970 wurden diese Bestände für die allgemeine Öffentlichkeit zugänglich, und die Sammlung wurde systematisch erweitert. Dies geschah zunächst noch ohne Unterstützung durch die Pflichtablieferung, die 1973 gesetzlich verankert wurde. Von nun an waren westdeutsche Noten- und Tonträgerverlage verpflichtet, zwei Exemplare jeder Veröffentlichung an das DMA zu senden.

1978 bezog das DMA mit der Siemens-Villa, dem Herrenhaus Correns in Berlin Lankwitz, ein spektakuläres Domizil, wo es mehr als 30 Jahre bleiben sollte. Hier gab es nun genügend Raum für Magazine, Büros und ein Tonstudio, um die rasant wachsende Menge an Tonträgern und Musikalien archivieren, katalogisieren und später auch digitalisieren zu können und um Technik und die nötigen Fachleute unterzubringen.

Somit wurden seit 1970 in Westdeutschland Musikressourcen gesammelt. Die Musiksammlung in Ostdeutschland reicht noch weiter zurück. Die Deutsche Bücherei in Leipzig bemühte sich bereits seit 1943 um Notenausgaben, in den 1970er-Jahren begann man auch hier damit, Tonträger zu sammeln. Diese Bestände wurden mit dem Umzug des DMA in Leipzig zusammengelegt. Durch Schenkungen und Ankäufe sammelt das DMA zudem historische Tonträger aus den frühen Jahrzehnten der Tonträgerindustrie seit 1877, um einen repräsentativen Überblick über die Vielfalt an Repertoire, Verlagen und verwendetem Material zu erstellen.

Der Markt verändert sich

Und dieser Blick in die Vergangenheit ist aufschlussreich: Gerade in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ist die Tonträgerindustrie von Wildwuchs geprägt. Material, Abspielgeschwindigkeiten, Größe, Gewicht – es gab kaum Konventionen für die Herstellung einer Schallplatte. Labels kamen und gingen, und jedes schien einen ganz individuellen Weg zu gehen, um einen Tonträger herzustellen, der den aktuellen Ansprüchen genügte. Dabei ging es weniger um Hörgewohnheiten als darum, die widrigen Umstände der Wirtschaftskrise und der Kriegs- und Nachkriegszeiten zu meistern.

Als die Sammlung des DMA einsetzte, standen Vinylschallplatten und Audiokassetten im Vordergrund. Mitte der 1980er-Jahre kam der große Umbruch vom analogen zum digitalen Tonträger. Während auf dem Musikmarkt seit mehr als hundert Jahren jeder physische Tonträger (Schallplatten aus Schellack oder Vinyl, Audiokassetten, Minidiscs, CDs etc.) durch einen anderen physischen Tonträger abgelöst wurde, ist der Paradigmenwechsel von körperlich zu unkörperlich der einschneidendste Entwicklungsschritt für die Tonträgerindustrie. Plötzlich sind Musikveröffentlichungen nicht mehr an Spielzeitbegrenzungen gebunden, Einzeltracks können einen vielfachen Umsatz von dem erzielen, was früher vor allem durch durchdachte Album-Konzepte möglich war. Der Markt ist vollends global, seit Vertriebswege über Wasser, Luft und Straße eine immer kleinere Rolle spielen.

All diese Veränderungen schlagen sich auch auf die Arbeit des DMA nieder – wenn auch verzögert. Als die CD anfing, die Schallplatte zu verdrängen, kamen immer noch große Mengen an neuveröffentlichten Vinyls in das Archiv. Und auch wenn viele deutsche Labels heute mit dem Rückgang der physischen Tonträgerverkäufe große Not haben, landen derzeit im DMA mehr körperliche Tonträger denn je. Der Rückgang betrifft die Auflagenhöhe und damit die wichtigste Erlösquelle beim Tonträger selbst, nicht aber die Musiktitelanzahl im DMA.

Aber natürlich passt sich das DMA dem fließenden Markt und seinen Veröffentlichungen an. Um Tonträger einerseits für die Ewigkeit zu bewahren und sie andererseits den Nutzer*innen zur Verfügung stellen zu können, wurden bis 2017 sämtliche Audio-CDs im Bestand migriert – das heißt: Der digitale musikalische Inhalt der Tonträger wurde ins Bibliothekssystem übernommen und kann nun an den Computern der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig, aber auch in Frankfurt am Main, in verlustfreier Qualität gehört werden. Gleichzeitig sorgt ein Tonmeister dafür, dass auch analoge Tonträger wie Vinyl- und Schellackplatten fachmännisch digitalisiert werden. Da deren Bestand sehr groß ist und die gründliche Digitalisierungsarbeit Zeit braucht, geschieht dies zumeist erst auf Nachfrage.

Mit dem Sprung ins Unkörperliche stellen sich ganz neue Fragen für das DMA: Was bedeutet „veröffentlicht in Deutschland“, wenn wir von Online-Ressourcen sprechen? Hat das Album eine Zukunft, oder werden bald nur noch Einzeltracks publiziert? Wie geht das DMA damit um? Was geschieht mit den vielen individuellen Vertriebsformen, bei denen die Musik mit Videos, Augmented Reality oder anderen zum Teil interaktiven Inhalten kombiniert wird?

Treue Unterstützung

Einige dieser Fragen hat die Deutsche Nationalbibliothek bereits für sich beantwortet, andere werden noch diskutiert – die Folgen sind oft weitreichender, als sie auf den ersten Blick scheinen. Da ist es von unschätzbarem Wert, Unterstützung aus den ganz verschiedenen Bereichen der Musiklandschaft zu bekommen. Im Beirat für das DMA treffen sich regelmäßig Sachverständige aus Musikbibliotheken, Musikverlagen, Interessensvertretungen und Gesellschaften der Phonoindustrie, der Rundfunkanstalten und Expert*innen für Urheberrecht, um dem DMA mit Rat und Tat beiseite zu stehen. Der direkte Draht zu diesen wichtigen Akteur*innen hat so manche Entscheidung beeinflusst und viele schwerzugängliche Türen geöffnet.

Wichtig sind auch die Kontakte, die das DMA über internationale Netzwerke wie die Vereinigungen der Musikbibliotheken (IAML) und der Schallarchive (IASA) unterhält. Trotz oder gerade wegen der oft unterschiedlichen Ausgangslagen der Institutionen weltweit schaffen die regelmäßigen Konferenzen wertvolle Synergien und ermöglichen Partnerschaften.

Auch innerhalb der Deutschen Nationalbibliothek ist das DMA nicht isoliert. Musik betrifft das ganze Haus, und die Vernetzung mit den Fachbereichen und Abteilungen Benutzung, Bestandsaufbau, IT, Marketing und Verwaltung ist allgegenwärtig. Inhaltliche Überschneidungen mit dem Deutschen Exilarchiv 1933–1945 (etwa, wenn es um Thomas Manns Nachlass an Schallplatten geht) und mit dem Deutschen Buch- und Schriftmuseum (jüngst mit der gemeinsamen Ausstellung „Störenfriede. Kunst, Protest und das Ende der DDR“) bereichern die Arbeit aller.

Ein Zuhause in Leipzig

Mehr als 30 Jahre hat das DMA in der Siemens-Villa in Berlin residiert. Als die Räumlichkeiten dem Anspruch eines modernen Archivs nicht mehr genügten, wurde 2010 im Leipziger Haus der Deutschen Nationalbibliothek eine neue Heimat für das DMA gefunden. Hier wurden die Planungen für den vierten Erweiterungsbau angepasst, und so konnte das DMA am 1. Dezember 2010 in einen maßgeschneiderten Anzug schlüpfen.

Die modernen Magazine der Deutschen Nationalbibliothek weisen ideale klimatische Bedingungen für die Archivierung von Notenausgaben, CDs, Schellack- und Vinylschallplatten, Klavierrollen und Wachswalzen auf. Der vollverglaste Musiklesesaal bietet mit 18 großzügigen Arbeitsplätzen nicht nur genügend Raum zum Studium musikalischer Literatur, hier lassen sich auch mehr als 500.000 Stunden digitalisierter Musik über Kopfhörer genießen. Vier Arbeitsplätze verfügen darüber hinaus über herausziehbare Klaviaturen, an denen – ebenfalls über Kopfhörer – der bestellte Klavierauszug gleich angespielt werden kann.

Wem das nicht genügt, der kann in der schallisolierten Hörkabine die Musik des DMA ohne Kopfhörer so laut oder so leise wie gewünscht über ein Mehrkanalsystem anhören oder Werke aus einer Million Notenausgaben am digitalen Flügel zum Klingen bringen.

Es ist eine Maxime des DMA, für jedes im Bestand befindliche Medium über das adäquate Abspielgerät zu verfügen. Um diese sichtbar zu machen, wurde die Musikausstellung „Von der Edison-Walze bis zur Blu-ray“ im öffentlichen Bereich des DMA installiert – sie gibt einen beeindruckenden Einblick in die oben genannte Vielfalt an Tonträgern und Wiedergabesystemen und wie sich beide im Laufe der Jahrzehnte veränderten.

Die Band „Ysilia“ bei ihrem Auftritt in der Ausstellung des Deutschen Musikarchivs. Im Hintergrund eine Vitrine mit Exponaten. Foto: PUNCTUM, Alexander Schmidt

Gleichzeitig bietet die Ausstellungsfläche eine wunderbare Atmosphäre für Konzerte und Lesungen in kleiner Besetzung. Denn das Wichtigste an Musik ist, dass man sie macht. Und so öffnet das DMA gern seine Tore für musikalische Veranstaltungen, die einen Bezug zu den Themen haben, die das ganze Haus betreffen. Dies kann im Musiklesesaal, in der Hörkabine und in der Musikausstellung geschehen, besser aber noch im Vortragsraum.

Das DMA zum Klingen bringen

Der Vortragsraum ist nicht nur für Konferenzen und Lesungen geeignet, hier steht auch ein selbstspielender Reproduktionsflügel aus dem Jahr 1925. Der Flügel ist zweimal jährlich für die Konzertreihe „Der unsichtbare Pianist“ in Aktion zu erleben, wenn im Rahmen eines Gesprächskonzertes ausgewählte historische Klavierrollen aus dem Bestand des DMA vorgeführt werden. Doch auch die anderen Räume des DMA eignen sich hervorragend für Musik- und Tanzveranstaltungen, die durch die Besonderheit des Gebäudes selbst zu etwas ganz Besonderem werden.

Zwei Tänzerinnen bei ihrem Auftritt im Lesesaal des Deutschen Musikarchivs Foto: PUNCTUM, Alexander Schmidt

2014 verwandelten Tänzer*innen des Leipziger Balletts der Oper Leipzig das DMA in eine Kulisse, vor der sie zwischen historischen Abspielgeräten und modern ausgestatteter Hörkabine tänzerisch von Klängen, Hörwelten und Atmosphäre berichteten. Die Veranstaltung „Tanz in den Häusern der Stadt“ lockte ein breites Publikum an, dass es sehr genoss, die teils wenig bekannten Räume aus dieser ganz eigenen Perspektive zu erleben.
Einem ähnlichen Konzept folgt die „Notenspur-Nacht der Hausmusik“ des Vereins „Leipziger Notenspur“. Auch hier geht es darum, Musiker*innen an ungewöhnliche Orte zu vermitteln – eine Idee, aus der alle Parteien großen Nutzen ziehen. Seit fünf Jahren treten so Winter für Winter kleine und mittelgroße Ensembles in privaten Wohnungen, Wohngemeinschaften, Büros und öffentlichen Gebäuden auf, um geladenem Publikum ganz unterschiedliche Musik nahezubringen. Das DMA hat diese schöne Tradition von Anfang an unterstützt, und kam so in den Genuss der Musik von Swing-Ensembles, Bigbands und von nordischen Folk-Gruppen, die immer auch Publikum ins Haus gelockt haben, welches das DMA bislang noch nicht von innen gesehen hatte.

Eine ebenfalls in jeder Hinsicht bemerkenswerte Veranstaltung 2019 war das Zusammentreffen des Bauhaus-Experten und Freejazz-Pianisten Oliver Schwerdt und der Dresdner Freejazz-Legende Günter „Baby“ Sommer am Schlagzeug, die im Rahmen des Bauhaus-Jubiläums über die Parallelen zwischen architektonischen Idealen und frei improvisierter Musik verhandelten. So akribisch durchdacht der Vortrag, so frei und wild war die Musik – und in dieser Form ein Novum für die hundert Jahre alten Mauern der Deutschen Nationalbibliothek.

Keine Feier – viele Feiern

Um das 50. Jubiläum des DMA zu feiern, wurde nicht eine große Feier geplant, sondern alle musikalischen Veranstaltungen des Archivs sollten das Label „50 Jahre DMA“ tragen. Da jedoch zahlreiche Vorträge, Konferenzen und Konzerte wegen der COVID-19-Pandemie nicht wie geplant in physischer Form stattfinden konnten, mussten adäquate virtuelle Formate gefunden werden. Besonderes Augenmerk lag dabei auf der virtuellen Roundtable-Diskussion „Beethoven 2020/2030: Musik im digitalen Heute und Morgen“ im Sommer und auf dem Livestream-Konzert der Band Ysilia aus dem Vortragsraum des DMA. Ein Gesprächskonzert mit dem „unsichtbaren Pianisten“ konnte – weil es zwischen den Lockdown-Phasen lag – unter Berücksichtigung aller Abstands- und Hygieneregeln in unserem Haus stattfinden.

Es sind diese vielfältigen Arbeitsfelder, die die Arbeit des DMA und die Arbeit im DMA so vielseitig und spannend machen: Alles ist im Fluss – die Aufgaben wechseln und stetig werden neue Lösungen erarbeitet. Die Netzwerke wachsen und sorgen wieder und wieder für neuen Input und hochinteressante Kooperationsmöglichkeiten. Und immer wird es sich im DMA um Musik drehen, sei es in Form von Tonträgern, von Einsen und Nullen, oder live auf den vielen Bühnen. Auf die nächsten 50 Jahre!

Letzte Änderung: 10.02.2021

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